Immer häufiger habe ich Kundinnen, die Probleme mit Hypermobilität bei ihren (Island-)Pferden haben. Und immer wieder höre ich, dass sich ihre Pferde aufgrund des „neuen“ Trainings positiv entwickeln. Darum möchte ich dir gern erzählen, warum hypermobile Pferde von Sensomotoriktraining profitieren.
Kurz vorab: Wenn du bisher nur sehr wenig über Hypermobilität bei Pferden weißt, empfehle ich dir dieses Interview mit Pferdephysiotherapeutin Ellen Wolff, das ich Ende 2018 geführt habe. Ellen hat sich im Laufe der Zeit auf das Thema Hypermobilität bei Pferden spezialisiert und ist eine – wenn nicht sogar DIE deutsche Expertin auf dem Gebiet.
Im Interview beschreibt Ellen Wolff Hypermobilität beim Pferd folgendermaßen:
Eigentlich bedeutet es nur, dass in einem Körper zu viel Bewegung möglich ist. Zu weiche Gelenke sind die Grundvoraussetzung für eine abnorme Beweglichkeit. Ursächlich dafür ist ein Defekt im Bindegewebe. Da aber aus dem Bindegewebe alle Körperstrukturen entstehen, liegt hier mehr als nur eine reine Gelenkdysfunktion zugrunde. Das macht die Hypermobilität sehr komplex.
Ellen Wolff
Und auf meine Frage, wie Hypermobilität erkannt werden kann, erklärt sie:
Ein Pferd mit genereller Hypermobilität ist in sich eher schlapp, es neigt massiv zur Trageerschöpfung, hat weiche bis durchtrittige Fesseln, ist schnell müde und im Gewebe (Haut / Unterhaut / Muskulatur) oft schwabbelig.
Oft haben diese Pferde auch schlaffe Ohren, eine sehr weich hängende Unterlippe und einen verträumten müden Blick. Manchen sieht man es schon am Gesicht an. Das weiche Gewebe wird auch leider oft als positiv gewertet, nach dem Motto: Das Pferd ist sehr entspannt und die Muskeln so schön locker. Eine zu geringe Muskelspannung (Tonus) ist aber eher negativ. Oft miteinander gekoppelt: Hypermobil – hypoton. Also eine zu große Beweglichkeit mit zu geringer Gewebs-Muskelspannung. Das sind dann Pferde, die man leicht aus dem Weg drücken kann, sie halten kaum gegen den Druck des Menschen, haben kein gutes Standing.
Ellen Wolff
Hypermobilität: Mangelnde Eigenwahrnehmung sorgt für „zu weiche Gelenke“
Lass uns mal kurz einen Blick auf die Anatomie werfen: Gelenke bestehen aus zwei oder mehr zusammengesetzten Knochen, die mit Bändern verbunden sind und von ihnen stabilisiert werden. Die Knochen sind über Sehnen mit Muskeln verbunden und werden von diesen bewegt. Somit haben wir in einem Gelenk drei bzw. vier Bindegewebsstrukturen die theoretisch beeinträchtigt sein können: Muskeln, Sehnen, Bänder und Faszien.
Im Inneren des Körpers befinden sich sensorische Nervenzellen, die das Gehirn über den Ist-Zustand des Körpers und seine Lage im Raum informieren. Diese sensorischen Nervenzellen heißen Propriozeptoren. Propriozeption ist ein Basissinn, er ist die Eigenwahrnehmung/Tiefenwahrnehmung. Die Propriozeptoren nehmen mechanische Reize wie Zug und Druck wahr, die aus dem Körperinneren kommen. Die Muskelspindeln erfassen die Dehnung eines Muskels, die Golgi-Sehnenrezeptoren die Muskelkontraktion (und damit den Zug auf die Sehne). In der Gelenkkapsel befinden sich zudem noch weitere Druckrezeptoren, die auf Druckveränderung reagieren.
Diese Rezeptoren berechnen die Gelenkstellung. Mit dieser Information kann das Gehirn dann den Befehl geben: Muskel X und Muskel Z, ihr spannt jetzt so und so stark an, um das Gelenk zu stabilisieren.
Rezeptoren reagieren vor allem, wenn es um Extrem- und Endstellungen geht. Das ist eine wichtige Schutzfunktion. Wenn du beispielsweise stolperst und mit dem Fuß umknickst, wäre dies eine Extremstellung, bei der der Gelenkradius sowie die Sehnen und Bänder über ein gesundes Maß hinaus belastet werden. Der Körper reagiert dann meist reflektorisch mit Kontraktion der Gegenspieler bzw. mit Muskelspannung. Dies schützt das Gelenk vor ungesunden Bewegungen, Überbeanspruchung und Verletzungen.
Wenn nun aber das Bindegewebe geschwächt ist, reagieren die Rezeptoren erst sehr viel später und somit gelangen fehlerhafte Informationen zum Gehirn. Das Körpergefühl und die Wahrnehmung des eigenen Körpers sind gestört. Infolgedessen kann das Gehirn nicht für ausreichend Gelenkstabilität sorgen. Die Gelenke sind „zu weich“. Auf diese Weise können leicht Verschleißerscheinungen wie zum Beispiel Arthrose entstehen.
Hypermobile Gelenke brauchen muskuläre Unterstützung
Um die Gelenke ausreichend zu stabilisieren, ist ein erhöhter Muskeltonus erforderlich. Hypermobile Gelenke brauchen also immer eine adäquate muskuläre Unterstützung. Dabei gilt es vor allem zwischen einem adäquaten Muskeltonus und einer Verspannung zu unterscheiden. Die Muskulatur muss stabilisieren können, sie darf aber nicht zu fest sein. Dies passiert schnell, weil feste Muskeln vermeintliche Stabilität erzeugen.
Die Verspannung ist oft eine Schutzfunktion, um die Instabilität auszugleichen. Das Gehirn, das für die Steuerung der Körperbewegungen zuständig ist, hat im Grunde immer nur ein Ziel: das Überleben sichern. Ist die Bewegung instabil und unsicher, ist das Leben in Gefahr. Also gibt es Kompensationslösungen, die die Instabilität ausgleichen. In der Regel erfolgt dies über eine Muskelanspannung, die leicht zu einer Verspannung führen kann.
Während bei einem trainierten und dadurch starken Muskel weiterhin eine gesunde Beweglichkeit gegeben ist (der Muskel lässt sich dehnen), fehlt diese bei einem verspannten Muskel. Damit wird auch der Gegenspieler negativ beeinträchtigt.
Sensomotorisches Training für hypermobile Pferde
Neben einem Aufbau an Muskelkraft ist es sinnvoll, die neurophysiologischen Defizite, die durch das schwache Bindegewebe entstehen und die zu einer falschen Information im Gehirn führen, zu reduzieren. Und hier kann Sensomotorisches Pferdetraining, das ja ein Neurotraining für Pferde ist, helfen, indem es den Prozess der Reizaufnahme (Sensorik) und der Reaktion auf den Reiz (Motorik) und so die intra- und intermuskuläre Koordination, also das Zusammenspiel der Muskeln im Körper, verbessert.
Hierbei werden besonders (aber nicht nur) die Propriozeptoren angesprochen mit dem Ziel, die (propriozeptive) Wahrnehmung zu verbessern und eine bessere Gelenkstabilität sowie stabilere Bewegungen zu erzielen, indem Muskeln besser reagieren und stabilisieren können.
Häufig haben hypermobile Pferde – ebenso wie Menschen auch – aufgrund der schlechten Eigenwahrnehmung Probleme mit Balance und Gleichgewicht. Sie sind tollpatschig und bewegen sich unkoordiniert. Auch dies sind Aspekte, die sich über das Sensomotorische Pferdetraining verbessern lassen.
Da Bewegung bei Pferden (und Menschen) mit Hypermobilität teilweise schwierig ist, bieten sich hier ruhige Übungen im Stand und im Schritt an – dies bietet das Sensomotoriktraining.
Lesetipp: Sensomotoriktraining für Pferde: Was dahinter steckt und wie dein Pferd profitieren kann
Gelenkstabilisierung: Tiefenmuskulatur stärken
Ein Aspekt des Sensomotoriktrainings, von dem hypermobile Pferde ganz besonderes profitieren, ist das Training der Tiefenmuskulatur, die sich direkt an den Knochen und Gelenken befindet. Die tiefen Muskeln besitzen viele Propriozeptoren und arbeiten reflexgesteuert. Diese Muskeln lassen sich mit Sensomotoriktraining gut ansprechen und ihre Reaktionsfähigkeit verbessern. Das sorgt für mehr Gelenkstabilität beim (überbeweglichen) Pferd.
Wichtig! Kleinschrittig vorgehen und auf Pferd achten
Ganz, ganz wichtig ist mir an dieser Stelle auf eine Sache hinzuweisen: Bitte achte IMMER auf dein Pferd! Für ein hypermobiles Pferd kann das Stehen auf einem instabilen Untergrund wie einer Turnmatte oder Balance Pads bereits eine große Herausforderung sein. Nimm dies wahr und arbeite damit. Sprich: Passe die Aufgabe und die Trainingszeit entsprechend deinem Pferd an und fordere nicht zu viel.
Geh in kleinen Schritten vor. Und auch wenn Balance Pads und Plufsig am Anfang sehr schwer für dein Pferd sind, trau dich und nutz sie regelmäßig! Wenn dein Pferd hier sicher ist, kannst du dich auch an Wippen herantasten. Darüber hinaus lässt sich aber auch mit wenig Aufwand ein großartiger Koordinationsparcours aufbauen.
Kleiner Tipp: Wenn dich das Thema interessiert, trag dich auf meiner E-Mailliste ein. Ich arbeite aktuell (Stand Juni 2022) an einem Onlinekurs zum Sensomotoriktraining und wenn du meinen Newsletter erhältst, wirst du informiert, sobald er fertig ist.
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Ein Leben mit hypermobilen Gelenken – ich kenne mich da aus 😉
Das sage ich nicht nur, weil ich damit bereits positive Erfahrungen mit Pferden sammeln konnte. Das sage ich auch, weil ich selbst hypermobile Kniegelenke habe und in dem, was ich mache, sehr eingeschränkt bin.
Bei mir sind in der Teeniezeit die Kniescheiben rausgerutscht – und zwar nicht nur ein- oder zweimal. Ständig. Bei so ziemlich allen Bewegungen und sogar beim Schlafen. Nicht schön und sehr schmerzhaft. Operieren wollte aber niemand.
Also gab es Sportverbot und Physiotherapie. Isometrische Übungen und Balance Pads haben bei mir für (einigermaßen) Stabilität gesorgt.
Mittlerweile wurde ein Knie operiert und hat neue Bänder bekommen. Dadurch bin ich insgesamt stabiler auf den Beinen, weil das Gelenk stabilisiert wurde. Die Propriozeption wird durch so eine OP aber nicht verbessert, ganz im Gegenteil! Sobald es aber rutschig ist oder ich unkontrollierte Bewegungen mache, merke ich die Instabilität nach wie vor sehr stark.
Obwohl die schlimmste Zeit schon etwa 20 Jahre her ist, reagiert meine Muskulatur nach wie vor, wenn ich nur daran denke. Die Muskeln werden automatisch fest, um zu stabilisieren. (Das passiert auch, wenn ich Unfälle im Fernsehen sehe oder davon höre.)
Das sind nur meine persönlichen Erfahrungen und niemand weiß, wie Pferde denken und fühlen. Aber ich bin mir sicher, dass „normales“ Training für stark hypermobile Pferde eine sehr stressige Situation darstellt.
Kleiner Tipp: In meinem Onlinekurs Rückenfitte Pferde gehe ich ausführlich auf das Sensomotoriktraining ein, sodass du auch mit einem hypermobilen Pferd von den Übungen und Inhalten profitieren kannst. Ganz viele Trainingstipps und Infos sind außerdem in meinem Buch Sensomotorisches Pferdetraining* zu finden.
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