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Angst und Stress beim Pferd: Ein Thema, mit dem sich jeder Reiter beschäftigen sollte

Was macht deinem Pferd Angst? Erkennst du gleich, ob dein Pferd Stress hat? Oder hast du dich mit dem Thema bisher vielleicht noch gar nicht auseinandergesetzt, weil dein Pferd auf dich immer völlig gechillt wirkt? Mit diesem Beitrag möchte ich gern ein paar Gedanken zum Thema Angst und Stress beim Pferd mit auf den Weg geben, denn ich bin der Meinung, dass das Thema häufig viel zu wenig beachtet wird.

Das erste Mal, als ich mich wirklich bewusst mit dem Thema Stress beim Pferd auseinandergesetzt habe, war, als Sleipi 2009 zu mir kam. Er zeigt Stress überdeutlich an und ist kein Pferd, dass völlig entspannt durchs Leben geht.

Sleipi kam als Jungpferd von mir und lebte bis dahin in einer riesigen Herde auf riesigen Wiesen in Dänemark. Als er kam, ließ sich nicht von jedem anfassen. Er mochte sich nicht putzen lassen und wurde bei zu viel Druck sofort ein wenig kopflos. Alles, was zischte, roch und womöglich seinen Körper berührt(e), sorgt(e) für Panik (das ist bis heute, wobei wir keine kopflose Panik mehr erleben).

Das Training mit ihm lehrte mich vor allem eins: kleinschrittig vorgehen und loben, loben, loben. Damals habe ich (noch) nicht gelickert, sondern sehr viel mit Pausen, ehrlichem verbalem Lob und Kraulen gelobt.

Mit diesem Mindset konnten wir im Training das Stresslevel sehr schnell runterschrauben. Sleipi begann Freude an der gemeinsamen Arbeit zu entwickeln und wir haben schnell (für mein Empfinden) wahnsinnig tolle Fortschritte gemacht.

Doch, und so ist es bis heute, kommt Druck und steigt das Stresslevel, mach Sleipi sofort dicht.

In manchen Situationen bleibe ich hartnäckig. Zum Beispiel wenn wir eine anstrengendere Übung reiten und ich weiß, dass er die Übung kennt und kann aber an der Grenze zu „reicht das nicht auch schon“ bleibt. Dann sage ich ihm freundlich, dass das nicht reicht, nach wenigen Schritten gibt es eine Pause und alles ist gut.

Aber dann gibt es Situationen, wo ich auch nach so langer Zeit immer wieder an die Anfänge erinnert werde: beim Einsprühen, beim Anziehen einer Inhalationsmaske usw. In solchen Momenten werde ich gern mal am Strick über den Hof gezogen, wenn ich an das Thema falsch herangehe.

Der aktive Stresstyp

Sleipi trägt er seine Emotionen immer sehr ungefiltert nach außen, beruhigt sich aber auch wieder. Jetzt, wo ich ein Pferd habe, bei dem das Gegenteil der Fall ist, weiß ich das wirklich zu schätzen. Ich wusste und weiß z.B. anhand des Muskeltonus immer, wie es Sleipi geht. Verändern andere Pferde minimal ihre Atemfrequenz, hat er schon das Weiß in den Augen. Das hat es mir leicht gemacht, alles, was ich beeinflussen konnte und kann, so zu gestalten, dass er möglichst wenig Stress hat.

Sleipi ist ein aktiver Stresstyp – so definieren es Christine Dosdall und Kathrin Guter-Wycisk in ihrem wunderbaren Buch Angst & Stress beim Pferd. „Dieser Pferdetyp und seine extrovertierten Verhaltensweisen, die er in bedrohlichen Situationen zeigt, beschreibt für viele Menschen das typische Angstpferd.“

Der passive Stresstyp

Das Gegenteil ist der passive Stresstyp.

„Zu diesem Stresstyp zählt man die eher introvertierten Pferde. Also Pferde, die meist als besonders gelassen und gutmütig gelten, denen aber oft eine gewisse Sturheit nachgesagt wird. […] Bei diesen Pferden kommt es häufig zum sogenannten Erstarren. […] Diese Pferde werden in belastenden Situationen, häufig in der Zusammenarbeit mit Menschen, immer langsamer und bewegen sich zäh und klebrig. Sie wirken wie in dicke Watte gepackt und man schafft es kaum, zu ihnen vorzudringen.“

Christine Dosdall und Kathrin Guter-Wycisk: Angst und Stress beim Pferd

Einen passiven Stresstyp mit Vorgeschichte hab ich seit Ende Juli 21 bei mir: Ich weiß nicht, was Merlin in seinem Leben schon erlebt hat. Er hat mehrere Stationen und ich kenne nur seine Vorbesitzerin persönlich. Ich weiß aber, dass das, was er erlebt haben muss, nicht nur gute Dinge waren. Denn dieses Pferd hat sehr wenig Vertrauen, begegnet den meisten Dingen mit großer Skepsis und einer gehörigen Portion Stress. Anders als bei Sleipi ist Merlin der Stress auf den ersten Blick aber nicht so deutlich anzusehen. Man kann es oft hören, denn er beginnt zu schnorcheln. Außerdem bleibt er häufig stehen und möchte nicht weitergehen. Ansonsten wirkt er sehr unberührt.

Wird der Stress nicht erkannt und werden diese Pferde über ihre Grenze gebracht, passiert es irgendwann, dass sie explodieren. „[…] und das tun sie häufig deutlich stärker und mit mehr Nachdruck als ihre extrovertierten Kollegen“, erklären Tine und Kathrin in ihrem Buch.

Bei Merlin ist dieser Punkt auch irgendwann gekommen: Ich habe ihn von seiner Vorbesitzerin als nicht-Reitpferd übernommen. Sie erzählte mir, dass Merlin nicht geritten wird, weil er wohl anfängt zu rennen und dies sehr gefährlich wird. Die Vermutung liegt nahe, dass dies sein Weg ist, sich aus der Angst- und Stresssituation zu befreien. Und weil er irgendwann gelernt hat, dass dieser Weg erfolgreich ist, hat er ihn verinnerlicht.

Ich find es unglaublich traurig, dass es so weit kommen musste!

Natürlich gibt es nicht nur diese beiden Stresstypen, sondern auch viele Mischtypen. Der aktive und der passive Stresstyp sind aber die beiden typischen Klassifizierungen.

Stress unter Pferden ist weit verbreitet

Stress ist unter Pferden häufiger verbreitet als man denken würde. So gibt es Studien die belegen, dass mindestens jedes dritte Freizeitpferd an Magengeschwüren leidet – als Folge von Stress – und jedes vierte Pferd depressive Symptome zeigt.

Zu den häufigsten Stressfaktoren zählen:

  • Platzmangel
  • Hunger
  • Schmerz
  • Falsches Training
  • Unpassendes Equipment
  • Mentale und körperliche Überforderung

Stress im Pferdetraining: Eustress vs. Disstress

Lass uns doch mal kurz auf das Thema Stress im Training eingehen.

Stress an sich ist unvermeidlich. Stress ist aber auch nicht immer negativ.

Vielleicht kennst du das auch: Du hast bei der Arbeit einen Abgabetermin für ein wichtiges Projekt oder du hast einen vollen Tag mit verschiedenen Kundenterminen. Mich stressen solche Dinge. Aber sie stressen mich nicht immer im negativen Sinne. Wenn ich zum Beispiel an einem Zeitungsartikel schreibe und weiß, dass er morgen abgegeben sein muss, dann motiviert mich dieser Stress und treibt mich an. Oder wenn ich einen Tag mit vielen Trainingseinheiten habe, dann stresst mich das auch. Ich möchte schließlich jedem meiner Schüler die bestmögliche Trainingseinheit bieten. Doch auch hier treibt mich der Stress positiv an.

Dieser positive Stress wird als Eustress bezeichnet. Er ist eine kurzfristige Herausforderung, Lebensenergien werden mobilisiert. In dieser Situation erbringst du deine beste Leistung und gehst gestärkt heraus.

Ich selbst erlebe diese positive Form von Stress sehr häufig im Freispiel den Pferden.

Das Gegenteil von Eustress ist Disstress. Das ist negativer Stress. Diese Form von Stress ist extrem belastend und hemmend und kann sogar Krankheiten hervorrufen.

Bei Stress wird Adrenalin ausgeschüttet. Adrenalin erhöht zum Beispiel die Herzfrequenz, was wiederum für eine bessere Durchblutung von Muskeln und Gehirn sorgt. So passt sich der Körper dem Stress an. Danach ist eine Ruhepause notwendig, in der der Körper regenerieren kann.

Gibt es diese Pause nicht, weil ein Pferd immer Stress hat, entsteht Überlastung.

Pferde reagieren als Fluchttiere etwas anders auf Stress als wir Menschen. Du weißt vielleicht, dass die Projektphase super anstrengend ist, du kennst aber den Sinn und Zweck dahinter. Pferde können solche Gedankengänge nicht haben.

In den vergangenen Jahren hat sich im Bereich der Verhaltensforschung bei Pferden jede Menge getan. So wissen wir heute immer mehr darüber, wie sich Stress im Pferdekörper auswirkt.

Empfindet ein Pferd beispielsweise Stress, wird der Fluchtinstinkt aktiviert.

Auf dieses instinktive Verhalten hat das Pferd selbst nur wenig Einfluss, weil die Emotionen über ein bestimmtes Gehirnareal gesteuert werden. Dieser Bereich des Gehirns wird aktiviert, sobald eine vermeintliche Gefahr auftritt. Außerdem wird im Körper Adrenalin freigesetzt, das für eine erhöhte Fluchtbereitschaft sorgt. Die Stresshormone haften sich an den Hippocampus, dieser ist quasi das Lernareal des Pferdes. Die Folge: Das Pferd kann weder klar denken oder lernen, noch seinen Fluchtreflex kontrollieren.

Dies ist natürlich sehr vereinfacht dargestellt und umfasst das Thema Stress nicht in seiner vollen Tiefe. Doch an dieser Stelle würde es zu weit führen, auf die chemischen Prozesse im Pferdekörper und die verschiedenen Stresstypen einzugehen.

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Reaktion auf Angst und Stress beim Pferd verstehen: ein kurzer Blick aufs Pferdegehirn

Das Gehirn von Säugetieren ist im Grunde sehr ähnlich aufgebaut. Dennoch gibt es ein paar kleine Unterschiede. So ist beim Pferdegehirn das Kleinhirn (Cerebellum) beispielsweise wesentlich ausgeprägter ist als das Großhirn. Das Kleinhirn ist das Kontrollorgan der Willkürmotorik und es spielt eine wichtige Rolle in Bezug auf die Koordination des Pferdes.

Das Großhirn kontrolliert die meisten Aktivitäten des Pferdes, indem es die Informationen der Sinnesorgane verarbeitet. Gleichzeitig ist es Sitz des Bewusstseins und des Gedächtnisses, denn im Großhirn sitzt auch der präfrontale Cortex. Der präfrontale Cortex ist zuständig für Aspekte wie Planung, Sozialverhalten und kognitive Leistung und bei uns Menschen wesentlich ausgeprägter als bei unseren Pferden.    

Daraus lässt sich schließen: Ein Pferd ist gar nicht in der Lage uns Reiter zu verarschen, weil ihm die entsprechende Hirnleistung fehlt um so komplex vorausschauend und planend zu handeln, wie wir Menschen es können. Wenn dein Pferd im Training also nicht so reagiert, wie du es gern hättest, such den Fehler nicht beim Pferd, sondern bei dir. Stell ihm die Aufgabe anders oder zerleg sie in kleinere, machbare Teile.

Das bedeutet aber nicht, dass Pferde dumm sind!  Ein Pferd verhält sich vielmehr so, wie es in seiner Natur liegt:

Pferde streben nach Überleben, Existenzsicherung und der Bedüfnisbefriedigung

Merlin zum Beispiel lernt sehr langsam. Man könnte meinen, dass er Aufgaben nicht versteht. Aber wenn man weiß, dass das Denken in für ihn stressigen Situationen nur eingeschränkt möglich ist, erklärt sich diese Langsamkeit von selbst. Also gilt es, die Trainingssituation so zu gestalten, dass ein Lernen möglich ist.

Sleipi dagegen reagiert auf Stress mit hohem Muskeltonus. Sind die Muskeln aber angespannt, kann kein effektives Training stattfinden (darüber liest du mehr in meinem Beitrag über Gesunde Muskeln).

Auf dieses Thema gehe ich übrigens auch in meinem Onlinekurs Rückenfitte Pferde ein, weil nur ein entspanntes, losgelassenes Pferd effektiv Muskeln aufbauen kann.

Cover Onlinekurs Rückenfitte Pferde

Mit dem Onlinekurs „Rückenfitte Pferde“ bekommst du ein grundlegendes Verständnis für gesunderhaltendes Pferdetraining sowie Einblicke in Anatomie und Biomechanik und du erfährst, wie du dein Pferd rückenfit trainieren kannst und worauf es dabei wirklich ankommt.

Ich habe mit den beiden Autorinnen Tine und Kathrin über ihr Buch und das Thema Angst, Stress und Unsicherheit beim Pferd gesprochen. Ich wollte unter anderem wissen, wie sie dazu kamen, sich auf das Thema zu spezialisieren, warum das Lernverhalten des Pferdes eine so wichtige Rolle spielt und inwiefern sich die Neuauflage ihre Buches von der alten Version unterscheidet.

Karolina: Wie kam es, dass ihr euch auf die Themen Angst, Stress und Unsicherheit beim Pferd spezialisiert und sogar ein Buch darübergeschrieben habt?

Tine: Ich bin über meine eigene Stute zu dem Thema gekommen, da sie ein Pferd mit vielen Verhaltensauffälligkeiten und Ängsten ist. Früher dachte ich, dass ich einfach nur nicht genug über Pferdeausbildung weiß, um ihr gerecht zu werden und habe sicherlich auch viele Fehler gemacht. Auf der Suche nach Weiterbildung habe ich den Weg zur Tierakademie Scheuerhof und dem Netzwerk der TOP Trainern gefunden. Über dieses Netzwerk haben auch Kathrin und ich uns kennengelernt und als Kathrin mich Anfang 2017 gefragt hat, ob ich für ihr Buchprojekt etwas über meine Stute schreiben möchte, war ich natürlich Feuer und Flamme. Und dann hat es sich quasi verselbstständigt, da wir beide einfach so viele ähnliche Erfahrungen mit unseren Pferden gemacht haben.

Kathrin: Auch ich bin natürlich zuerst über meine eigenen Pferde auf dieses Thema gekommen. Grundsätzlich bleibt es wohl nicht aus, sich bei einem Fluchttier wie dem Pferd früher oder später damit zu beschäftigen. Zumal ich gleich drei eigene Pferde hatte, die alle eine mehr oder weniger ausgeprägte Angst und Stressthematik hatten bzw. mitbrachten.

Irgendwann hat es sich so entwickelt, dass ich fast ausschließlich ängstliche und gestresste Kundenpferde betreute. Mit den, oft sehr verzweifelten, Besitzern habe ich sehr eng und vertraut zusammengearbeitet und sie waren es auch, die mich immer wieder auf ein Buch angesprochen haben. Die Idee zum Buch war aber bereits relativ lange in meinem Hinterkopf, doch erst durch die konkreten Nachfragen meiner Kunden, der Kontakt zum Verlag Müller Rüschlikon und die schnelle Zusage hat das Buchprojekt so richtig ins Rollen gebracht.

Tine hat ja schon kurz erzählt, wie wir uns kennengelernt haben und auch wenn ich mir damals eigentlich sicher war, das Buch alleine zu schreiben, hat es zwischen uns sofort gepasst und ich habe sie relativ schnell gefragt, ob sie sich eine Zusammenarbeit vorstellen könnte. Zu meinem Glück und dem der Pferde, hat Tine fast genauso schnell zugestimmt und somit war das Buchprojekt komplett. Mit der Neuauflage hat sich einmal mehr gezeigt, wie sinnvoll dieser Schritt war, denn wir ergänzen uns einfach sehr gut und die Leser können so auf die Expertise von beiden Trainerinnen zurückgreifen.

Das Buch kannst du hier kaufen*

Den betroffenen Pferden sowas wie eine Stimme zu geben

Uns war es wichtig, den betroffenen Pferden sowas wie eine Stimme zu geben, aufzuklären und Licht ins Dunkel der unterschiedlichen Trainingstechniken zu bringen. Auch wenn unser Buch eher Clickertrainern anspricht, haben wir es doch mit dem Wunsch geschrieben, über die Methodengrenzen hinaus für bedürfnisorientierten Umgang und Training zu werben. Die Menschen zu sensibilisieren, dass Pferde eigentlich immer mit uns kooperieren wollen und nicht grundsätzlich nach der “Weltherrschaft” streben.

Wichtig ist auch, immer wieder darauf aufmerksam zu machen, dass unerwünschtes Verhalten eigentlich immer eine Bitte vom Pferd ist (auch wenn viele Pferde irgendwann sehr nachdrücklich um Hilfe bitten). Das Buch soll den Lesern eine Hilfe zur Veränderung des eigenen Fokus aufzeigen. Mit wohlwollendem Blick ist es deutlich leichter mit besonderen Pferden zu arbeiten.

Und damit wären wir schon beim Thema Mensch, denn eigentlich ist das Training mit diesen Pferden immer, sowohl physisch als auch psychisch, eine große Herausforderung. Genau das war uns von Anfang an wichtig, den Lesern möglichst viel Wissen an die Hand zu geben, Ihnen den Rücken zu stärken und möglichst viel Kraft und Zuversicht mit auf den Weg zu geben.

Symptombekämpfung statt Ursachen lösen

Glaubt ihr, dass das Thema in der Pferdewelt noch nicht ausreichend Beachtung findet?

Tine & Kathrin: Das Thema findet sogar sehr große Beachtung, wenn man die vielen Bücher, Kurse und anderen Angebote dazu sieht. Das Problem liegt eher an der Herangehensweise, denn für Trainern und Pferdebesitzern, die mit der positiven Verstärkung die Probleme angehen möchten, gab es damals auf dem deutschen Markt eigentlich nichts. Stattdessen gibt es Hilfsmittel in Hülle und Fülle zu kaufen, die dazu dienen sollen, “widersetzliche” Pferde besser kontrollieren zu können. Hier wird also oft Symptombehandlung betrieben, statt sich mit den Ursachen auseinanderzusetzen.

Welche Faktoren sind eurer Erfahrung nach die größten Auslöser für Angst, Stress und Unsicherheit beim Pferd?

Tine & Kathrin: Eigentlich ist es immer eine Kombination aus schlechten Erfahrungen, körperlichem Unwohlsein und unpassenden Haltungsbedingungen, sowie der eigenen Einstellung und dem Druck, der vom Umfeld auf die Pferdebesitzer gemacht wird.

Christine Dosdall – www.clickertiere.de

Kathrin Guter-Wycisk – www.kreativepferde.de

Und was sind aus eurer Sicht die größten Fehler im Umgang mit den ängstlichen und unsicheren Pferden – und warum werden diese Fehler gemacht? Rein aus Unwissenheit oder weil das Credo „der Gaul verarscht dich doch und hat nur keinen Bock“ nach wie vor weit verbreitet ist (wobei das eine ja das andere bedingt)?

Tine & Kathrin: Meistens ist es doch so, dass sich die Probleme eher schleichend entwickeln – den Pferdebesitzern fällt erstmal gar nichts auf, was ihrer Meinung nach Handlungsbedarf hätte. Sobald die Probleme offensichtlicher werden, kommen dann auch die eigenen Überzeugungen und die eigene Trainingsphilosophie zum Tragen.

Während Anhänger und Trainer der ‚Dominanz- und Führungstheorien‘ eher dazu tendieren, dem Pferd Ungehorsam zu unterstellen, triggert das Pferdeverhalten auch immer uns selbst mit unseren Überzeugungen und Erfahrungen. Automatisch zweifelt man dann zum Beispiel an seinen Führungsqualitäten oder den eigenen Trainingsskills, oder eben am Pferd, je nachdem wie reflektiert der Mensch ist. Und hier findet man auch die meistgemachten Fehler, nämlich unreflektierte, zu harte und lerntheoretisch nicht sinnvolle Maßnahmen. Pferde für jede Art des Ungehorsams zu bestrafen, fällt zum Beispiel in diese Kategorie.

Gerade im konventionellen Training ist der Umgang sehr geprägt von einer Fehlerkultur. Um unerwünschtes Verhalten zu korrigieren, müssen die Pferde dieses erst einmal zeigen und damit wird dieses Verhalten im Gehirn abrufbar. Scharren, Beißen, Treten, Trödeln, Vorrauseilen, vermeintliche Kooperationsverweigerung, Steigen, Durchgehen usw., das alles sind Verhaltensweisen, die mehr oder weniger normal im Reiteralltag sind und die man dem Pferd vermeintlich nicht durchgehen lassen darf.

Das Problem bei dieser Herangehensweise ist, dass man eigentlich von hinten anfängt zu trainieren. Man schafft sich ein Problem, das dann bestraft wird, um es wieder abzustellen. Das wäre ungefähr so, als wenn wir einen Schulanfänger dafür bestrafen, dass er noch keine mathematische Gleichung lösen kann. Auch wenn er uns mehrfach nett darauf hingewiesen hat, dass er erst noch die natürlichen Zahlen lernen muss und einiges anderes, von dem er noch gar nichts ahnt. Das wäre für unseren Schulanfänger wirklich ziemlich stressig und er würde die Schule, das Lernen, die Lehrer und vielleicht noch einige andere Dinge sicher nicht positiv verknüpfen.

Und genau so geht es unseren Pferden. Dieser Fokus auf richtig und falsch, auf schwarz und weiß ist es, was besonderen Pferden am meisten zu schaffen macht. Sie lassen sich oft nicht in ein Raster pressen und das verunsichert Trainer und Besitzer gleichermaßen. Und hier kippt das Verhalten oft, weil diese Pferde nicht ewig alles kompensieren können.

Welchen wichtigsten Tipp habt ihr, um diese Fehler in Zukunft zu vermeiden?

Tine & Kathrin: Eigenes Verhalten reflektieren, am besten regelmäßig eigenes Training videografieren und sich im Zweifelsfall an Experten wenden. Und natürlich muss man bei diesen besonderen Pferden auch immer an den eigenen Trainingsskills arbeiten.

Tipp: Ich nutze sehr gern mein Handy in Kombination mit dem PIVO* . Damit kannst du dich sogar in der Bewegung (Bodenarbeit/Reiten) filmen lassen. Hier findest du die Pivo-Handykammer*.

Stress- bzw. Angstbelastung bedeutet bei den betroffenen Pferden und Menschen eine dauerhafte Einschränkung von Lebensqualität

In eurem Buch setzt ihr, genau wie im echten Leben auch, auf die Arbeit mit positiver Verstärkung, sprich: Clickertraining. Hierbei handelt es sich zunächst einmal um nichts anderes als eine Form des Lernens. Welche Rolle spielt eurer Meinung nach das Wissen um das Lernverhalten vor allem bei ängstlichen, gestressten und unsicheren Pferden?

Tine & Kathrin: Während wir uns bei Pferden, die das Leben nicht ganz so ernst nehmen und quasi auch mal alle Fünfe gradelassen sein können, durchaus die ein oder andere Ungenauigkeit im Training erlauben können, ist für ein ängstliches Pferd im schlimmsten Fall die eine unglückliche Situation, die das Fass sprichwörtlich zum Überlaufen bringen kann. Besonders, wenn mit negativer Verstärkung (und positiver Strafe) gearbeitet wird, kann es fatal sein, den Moment, in dem das Pferd den ersten Ansatz des gewünschten Verhaltens zeigt, nicht sofort durch Drucknachlassen zu verstärken. Im Zweifelsfall gibt es keine zweite Chance.

Während es zum Beispiel beim Hinlegen üben, dem Spanischen Schritt oder Trab-Galopp-Übergängen beim Reiten vermutlich ziemlich egal ist, ob das jetzt ein halbes Jahr länger dauert oder nicht, bedeutet ein halbes Jahr Stress- bzw. Angstbelastung bei den betroffenen Pferden und Menschen eine dauerhafte Einschränkung von Lebensqualität und im schlimmsten Fall sogar eine chronische gesundheitliche Belastung. Und vor allem ist es wichtig zu wissen – nichts ist in Stein gemeißelt. Alle Pferde können neue Strategien lernen, um zukünftig mit mehr Zuversicht durchs Leben zu schreiten.

Angenehmen Gefühle bei der Arbeit mit positiver Verstärkung können zu einem Schutzschild gegen Ängstlichkeit werden

Muss ich unbedingt clickern oder kann ich auch mit konventionellem Training (negative Verstärkung) erfolgreich mit ängstlichen Pferden arbeiten?

Tine & Kathrin: Unserer Meinung nach ist das Wissen um – korrekt angewendete – negative Verstärkung unumgänglich, wenn es um den Umgang mit ängstlichen Pferden geht. Denn viele Abwehr- und Meideverhalten werden genau auf diese Weise überhaupt erst gelernt und aufrechterhalten. Also ja, theoretisch und praktisch ist es möglich, auch mit einem ängstlichen Pferd ausschließlich über negative Verstärkung zu arbeiten.

Dies bedeutet aber auch – und daran scheitert es im Alltag leider nur allzu oft – dass auch die negative Verstärkung wirklich verstanden werden muss. Denn ein ängstliches Pferd an der Flucht zu hindern und Abwehr- oder Meideverhalten mit sich steigernden Schmerzreizen zu unterdrücken, hat mit korrekt angewandter negativer Verstärkung nichts zu tun. Auch bei negativer Verstärkung gilt es, kleinschrittig zu arbeiten, gewünschtes Verhalten sofort zu belohnen und unterhalb der Reizschwelle, also im grünen oder gelben Trainingsbereich, zu bleiben.

Einen sehr mächtigen Aspekt der positiven Verstärkung können wir so jedoch leider nicht nutzen: Denn während das Pferd bei Anwendung der negativen Verstärkung vor allen Dingen Erleichterung fühlt, können die angenehmen Gefühle, die bei der Arbeit mit positiver Verstärkung geweckt werden, zu einem regelrechten Schutzschild gegen Ängstlichkeit werden.

Euer Buch Angst und Unsicherheit beim Pferd ist kürzlich in einer neuen Auflage erschienen. Was habt ihr im Vergleich zur ersten Version verändert – und warum?

Tine & Kathrin: In der ersten Auflage des Buches ist vor allen Dingen der Praxisteil ein bisschen zu kurz gekommen, weswegen wir uns sehr über das Angebot des Verlags gefreut haben, diesen im Rahmen der Neuauflage noch einmal zu überarbeiten und zu ergänzen. Komplett neu sind dabei die Trainingspläne und Videos als Ergänzung zum Buch, um das ein oder andere Thema anschaulicher und praxisnaher vermitteln zu können.

Und auch wir haben uns in den vergangenen vier Jahren natürlich weiterentwickelt, dazu gelernt, neue Erfahrungen mit unseren Pferden gemacht, die im Abschnitt Angst im Alltag in unseren Augen noch einmal eine wichtige Ergänzung darstellt. Über das Thema gibt es so viel zu erzählen, dass ein Buch dafür gar nicht ausreicht, dennoch haben wir unser Bestes gegeben, alle wichtigen Aspekte zu erwähnen.

Wie können Pferdebesitzer mit eurem Buch arbeiten und von eurem Wissen profitieren?

Tine & Kathrin: Das Buch soll Anregungen bieten, welche unterschiedlichen Herangehensweisen es geben kann. Nicht immer ist das ‚Problem‘ des Pferdes ein Trainingsthema, im Coaching geht es auch oft genug um Haltungsverbesserungen oder gesundheitliche Themen.

Oft wird den betroffenen Pferdebesitzern von ihrem Umfeld ja permanent vermittelt, dass sie Schuld an den Problemen ihres Pferdes haben, weil sie keine geborenen Führungspersönlichkeiten sind, sich nicht genug durchsetzen können oder ähnliches. Das Buch kann also als Leitfaden genommen werden, die unterschiedlichen Lebensbereiche des Pferdes noch einmal zu betrachten.

Außerdem kann das Wissen darum, wie die Pferde eigentlich problematisches Verhalten lernen, den ein oder anderen AHA-Effekt auslösen, denn manchmal sind es doch ganz kleine Ursachen mit großer Wirkung.

Und schließlich geben die im Praxisteil vorgestellten Übungen einen Einblick darin, wie vielfältig das Training mit positiver Verstärkung aussehen kann und dass es dabei um viel mehr geht, als die Pferde für niedliche Tricks mit Leckerlis vollzustopfen.

Was das Buch nicht bietet ist eine Schritt-für-Schritt-Anleitung, die aus jedem Pferd das ‚perfekt‘ erzogene Pferd macht. Denn uns ist es wichtig, den Lesern das Wissen an die Hand zu geben, mit dem sie selbst in die Lage versetzt werden, problematische Situationen zu erkennen und Lösungsstrategien zu finden.

Es gibt viele gute Bücher zur grundlegenden Pferdeausbildung – unser Buch setzt dort an, wo die normalen und gängigen Vorgehensweisen nicht funktionieren, weil Pferde und Besitzer vor Herausforderungen stehen, die in den gängigen Systemen so einfach nicht – oder zumindest nicht im benötigten Ausmaß – thematisiert werden. Hier eine Brücke zu schlagen, das ist unser Ziel. Für weitergehende Fragen stehen wir auch gerne im Rahmen von Coachings zur Verfügung, unsere Kontaktdaten stehen im Buch und wir freuen uns immer über Nachrichten der Leser.

Danke, dass ihr euch die Zeit genommen habt, meine vielen Fragen so umfangreich zu beantworten!

Du erreichst die beiden unter info@kreativepferde.de (Kathrin) und info@clickertiere.de (Tine)

Wenn du mehr über dieses unglaublich spannende und umfangreiche Thema erfahren möchtest, empfehle ich dir unbedingt das Buch Angst und Stress bei Pferden von Tine und Kathrin. Das Buch ist vor kurzem in der zweiten Auflage erschienen. Die erste Auflage gefiel mir schon sehr gut und sie hat mir wahnsinnig geholfen, dieses ganze Thema besser zu verstehen. Das wirklich sehr empfehlenswerte Buch Angst und Stress beim Pferd kannst du hier kaufen*.

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