Therapeutisches Reiten

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Therapeutisches Reiten: eine ganzheitliche Therapie (nicht nur) für Menschen mit Handicap

„Schließ die Augen und fühl einfach mal, wie sich das Pferd unter dir bewegt und dich trägt“, sagt Anne Jendrny, während sie das Pferd durch die Halle führt. Anne gibt eine Reitstunde und Übungen wie diese stehen dabei im Mittelpunkt. Denn: Ihr Schüler ist ein Junge mit Autismus.

Anne ist Reitpädagogin und unterrichtet Menschen mit Handicap. Zu ihren Schülern gehören Kinder und Erwachsene mit Lern- und geistigen Behinderungen, psychosomatischen und psychischen Erkrankungen, Neurosen, Bewegungsstörungen, Haltungsschäden, Multiple Sklerose, Autismus, Sprachstörungen, Rehabilitationsbedarf, Suchterkrankungen, Verhaltensstörungen und Sinnesschädigungen.

Im Mittelpunkt ihrer Reitstunde stehen deswegen nicht die Förderung des reiterlichen Könnens oder die Ausbildung des Pferdes. Bei ihr geht es stattdessen um die Heilung und die Förderung der geistigen, sozialen und körperlichen Entwicklung ihrer Schüler.

Die wohltuende Wirkung des Reitens

Die Nachfrage nach therapeutischem Reiten hat in den vergangenen Jahren kontinuierlich zugenommen. Doch das Wissen, das Pferde eine positive Ausstrahlung auf Menschen mit Handicap haben, ist nicht neu: Bereits in der Antike kannte man die wohltuende Wirkung. So soll bereits der berühmte Arzt Hippokrates (470-370 v. Chr.) vom „heilsamen Rhythmus des Reiten“ und einer Steigerung des Selbstgefühls berichtet haben.

Vom therapeutischen Effekt des Reitens hat sicherlich jeder schon einmal profitiert: Wenn zum Beispiel in einer Reitstunde hart daran gearbeitet wird, dass das Pferd sich ordentlich biegt, dann ist die Freude umso größer, wenn es am Ende klappt und der Reitlehrer lobt. Man freut sich und ist stolz auf sich, denn man konnte etwas erreichen, hat sich durchgesetzt und sich gleichzeitig auch bewährt. Man hat jedem gezeigt: Ich kann das.

Das eigene Selbstwertgefühl steigt, man hat wieder Vertrauen in sich und die eigenen Fähigkeiten gewonnen. Oder man hatte einen stressigen Tag und ist von einem Termin zum nächsten gehetzt. Wenn es dann abends zum Stall geht und man die Nase in die Mähne des Ponys stecken kann, dann kommt man zur Ruhe, schaltet ab und lässt die Probleme draußen.

Pferde kennen keine Vorurteile

Eine ähnlich positive Wirkung haben Pferde auf Menschen (und zwar auf alle und nicht nur auf Menschen mit Handicap). Pferde sind sehr soziale Wesen, sie kennen keine Vorurteile und begegnen einem Menschen mit Behinderung genauso wie einem Menschen ohne Behinderung.

Ihnen ist es egal, ob jemand dünn ist oder dick, ob er sprechen kann oder ob er vielleicht im Rollstuhl sitzt. Das Pferd reagiert auf das Verhalten des Menschen und reflektiert es dadurch. So kann jeder die Auswirkungen seines Handelns selbst erleben.

Wenn ein Kind zum Beispiel aufbrausend und unruhig ist, dann lernt es durch den Umgang mit dem Pferd sich zurückzunehmen und ruhig zu werden. Schüchterne und zurückhaltende Menschen wiederum lernen selbstbewusster zu werden. „Pferde sorgen oft für ein offenes Klima und vielen Menschen mit Behinderung fällt es einfacher Kontakt zum Tier aufzunehmen als zu einem anderen Menschen“, erklärt Reitpädagogin Schirin Bockermann. „Pferde zeigen ein recht konstantes Verhalten und sind somit für viele Menschen ein verlässlicher Partner. In Bezug auf eine pädagogische Begleitung finde ich die Arbeit mit Pferden besonders geeignet, weil sich so viele Möglichkeiten bieten. Man kann die Tiere beobachten, anfassen, putzen, füttern, reiten und ihnen auf andere Weise nah sein, indem man beispielsweise den Stall ausmistet.“

Reiten: eine ganzheitliche Therapie

Reiten ist eine ganzheitliche Therapie. Sie spricht sämtliche Sinne des Menschen an und fördert zum Beispiel die Tiefenwahrnehmung (Propriozeption), das Gleichgewicht (vestibuläre System), den Tastsinn (taktile System) sowie kognitive Fähigkeiten. „So können die verbale Sprache, die Konzentrationsfähigkeit und sogar Lesen, Rechnen und Schreiben verbessert werden“, sagt Schirin.

Sie hat Erfahrung mit der Arbeit mit Menschen die ganz verschiedene Behinderungen mit sich bringen: Dazu zählen Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit geistiger und/oder mehrfacher Behinderung, junge Frauen mit Essstörung. Aber auch Menschen mit Autismus sowie Kinder mit ADHS gehören zu den Menschen, die sie mit ihrem Pferd Garri begleitet. Schirin ist der Meinung, dass vor allem soziale Beeinträchtigungen eine Folge der gesellschaftlichen Entwicklung sind. „Immer mehr Menschen verbringen viel Zeit im Hause, sei es vor dem Fernseher, dem Handy oder am Computer. Die Sinneswahrnehmung, die körperliche Betätigung, die soziale Interaktion und vieles mehr verarmen dabei.“

Therapeutisches Reiten: verschiedene Bereiche

Therapeutisches Reiten lässt sich in verschiedene Bereiche unterteilen. So gibt es Hippotherapie, Heilpädagogische Förderung mit dem Pferd sowie Reiten als Sport für Menschen mit Behinderung.

Während bei der Hippotherapie der Schwerpunkt auf der Physiotherapie liegt, die von einem Physiotherapeuten mit entsprechender Zusatzausbildung durchgeführt wird, geht es bei der heilpädagogischen Förderung, auf die sich Anne und Schirin spezialisiert haben, um eine ganzheitliche Förderung auf körperlicher, geistiger, seelischer und sozialer Ebene. Sie wird von Pädagogen mit entsprechender Zusatzausbildung durchgeführt.

Reiten als Sport für Menschen mit Behinderung ist als Rehabilitation und Integration von Behinderten zu sehen. Diese Form der Therapie kann von Reitlehrern mit Zusatzausbildung angeboten werden. Die Zusatzausbildung zum therapeutischen Reiten, die bei allen Schwerpunkten wichtig ist, gibt den entscheidenden Unterschied zur Ausbildung eines regulären Trainers.

Ein Reitlehrer, der Menschen mit Handicap unterrichten möchte, muss beim Aufbau seiner Unterrichtsstunde sehr viel bedenken. Einfach mal spontan gucken, worauf der Reitschüler Lust hat oder was er vielleicht bevorzugt trainieren möchte, geht dann nicht. Stattdessen muss er mit seiner Reitstunde individuell auf die Beeinträchtigungen seines Schülers eingehen und die Reitstunde mit einem längerfristigen Ziel gestalten. Denn jeder Schüler ist anders: Die einen haben körperliche Einschränkungen. Das kann von kleineren motorischen Schwierigkeiten über Probleme mit dem Gleichgewicht und der Koordination bis hin zu Spastiken oder Lähmungen reichen. Manche können nicht oder nur schwer alleine auf dem Pferd sitzen. Die anderen haben geistige Beeinträchtigungen wie große Ängste und Wahrnehmungs- oder Konzentrationsstörungen. Andere sind aggressiv, haben ein geringes Selbstwertgefühl oder können sich nur schwer selbst einschätzen.

„Man braucht neben viel Geduld vor allem Einfühlungsvermögen und Verständnis für den Klienten“, sagt Anne. „Grundsätzlich gehe ich mit den Übungen bewusst ein Problem, eine Fehlhaltung, ein Fehlverhalten oder eine Fehlentwicklung an, und versuche es spielerisch, ohne es zu thematisieren, zu verändern und ein zufriedenes Ich zu entwickeln.“

Dabei greift sie gerne auf Hilfsmittel wie Bälle, Tücher, Ringe oder Wäscheklammern zurück. „Eine besonders beliebte Gruppenübung ist das Wäscheklammerspiel. Dabei sitzt ein Kind auf dem Pferd und schließt die Augen. Die anderen bekommen ein paar Wäscheklammern, die sie am Pferd, also an der Mähne, am Sattel, an der Decke oder am Reiter befestigen. Anschließend darf das Kind auf dem Pferd die Augen öffnen und alle Klammern entfernen. Wenn es an eine Klammer nicht rankommt, helfen ihm die anderen.“

Damit der Reiter an alle Wäscheklammern kommt, muss er sich strecken, dehnen, umdrehen und pfiffig agieren. Die Übung zielt auf verschiedene Bereiche: Motorik, Koordination und Körperwahrnehmung wird verbessert. Gleichzeitig lernt das Kind Vertrauen aufzubauen, sowohl dem Pferd gegenüber als auch den anderen Kindern. Die Gruppe erfährt, wie es ist, etwas gemeinschaftlich zu machen. Außerdem lernen die Kinder sich gegenseitig zu helfen und zu unterstützen.

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Mehr als nur Reiten

Auch Übungen wie Augen schließen und das Pferd spüren, den Pferdehals umarmen,  mit den Fingern die Zehen des gegenüberliegenden Fußes berühren, Pferdeohren berühren, Schweif anfassen, rückwärts reiten, bäuchlings auf dem Pferderücken liegen oder sich Bälle zuzuwerfen können ebenso Teil einer Unterrichtsstunde sein wie ein Spaziergang durch den Wald, ein Geschicklichkeitsparcours oder Gruppenspiele.

Doch es geht nicht immer nur ums Reiten. „Mir ist bei der heilpädagogischen Begleitung mit dem Pferd wichtig, dass die Teilnehmer einen guten Kontakt zum Pferd aufbauen. Das geht vor allem durch Beobachtungen und Berührungen. Die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen können spüren, wir warm das Pferd ist, wie sich Fell und Mähne anfühlen und wie es auf die Berührungen reagiert.

Auch die freie Begegnung mit dem Pferd im Longierzirkel oder im Offenstall spielt eine große Rolle. Die Teilnehmer können erkennen, was das Pferd ihnen sagen möchte, ob es etwa aufgeschlossen und zugänglich ist oder ob es erst mal abwartet, was passiert. Ich lasse sie auch gerne das Pferd führen – ohne Halfter und Strick, sondern allein mithilfe von Körpersignalen“, sagt Schirin.

Wer sich für therapeutisches Reiten und die Ausbildungsmöglichkeiten interessiert, der findet weitere Informationen auf der Internetseite des Deutschen Kuratoriums für Therapeutisches Reiten.

* Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift DAS ISLANDPFERD 2/2014. Er war Auftakt meiner Serie zum Thema „Reiten mit Handicap“. Im zweiten Teil ging es um die Ausbildung des Therapiepferdes.

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