Das taktile System ist die Wahrnehmung in der Oberflächensensibilität, der sogenannte Tastsinn. Welche Funktion das taktile System für dein Pferd hat und was passiert, wenn die taktile Reizverarbeitung nicht adäquat funktioniert, erfährst du hier.
Mithilfe seines Nervensystems tritt das Pferd in Kontakt zu seiner Umwelt. Neben den bekannten Sinnen wie Hören, Sehen, Riechen und Schmecken, die visuelle, akustische, olfaktorische oder Reize wahrnehmen, gibt es noch drei weitere Sinne: die Basissinne, zu denen neben dem taktilen System auch das propriozeptive System (Tiefensensibilität) und das vestibuläre System (Gleichgewichtssinn) gehören.
Das taktile System ist eines der ersten Sinnessysteme, die sich im Mutterleib bilden. Vom menschlichen Fötus weiß man beispielsweise, dass er bereits um die fünfte bis siebte Schwangerschaftswoche auf Berührungen an den Lippen reagiert. Schon vor der Geburt ist das taktile System voll entwickelt.
Es ist außerdem das größte Wahrnehmungssystem, denn es umfasst die gesamte Hautoberfläche, inklusive der Hufe, die ein Hautanhangsgewebe darstellen. Außerdem ist das taktile System der erste Basissinn, mit dem man in Kontakt kommt, beispielsweise indem man das Pferd an seiner Hand schnuppern lässt oder es streichelt.
Sensorische Nervenzellen nehmen Umweltreize wahr
In der gesamten Haut verteilt befinden sich sensorische Nervenzellen, die die verschiedenen Umweltreize, mit denen dein Pferd in Berührung kommt, aufnehmen und weiterleiten.
Diese Empfindungen können sein: Druck, Berührung, Dehnung, Vibration oder Temperatur. Doch auch Juckreiz, Schmerz und sogar der Sauerstoffgehalt der Luft werden von den Rezeptoren der Haut wahrgenommen.
Alle wahrgenommenen Reize werden an das Zentrale Nervensystem weitergeleitet, wo sie mit Empfindungen wie heiß oder kalt, rau oder schmerzhaft, verbunden werden. Anhand dieser Informationen gibt das ZNS Befehle an die ausführenden Organe (beispielsweise die Muskeln), die dann entsprechend reagieren.
Vereinfacht gesagt: Dank des Nervensystems ist es deinem Pferd (und auch dir) möglich, adäquate physiologische und Verhaltensreaktionen auf die vorliegende Situation zu zeigen.
Die Informationen, die mittels des Tastsinns aufgenommen werden, vermitteln dem Pferd außerdem Kenntnis von der Ausdehnung und den Grenzen seines Körpers, das Pferd erfährt also, wo es beginnt und wo es aufhört, weil es die auftreffenden Reize lokalisieren kann.
Vereinfacht gesagt: Wenn dein Pferd beispielsweise immer wieder anstößt, wenn es durch einen engen Durchgang gehen muss, kann es sein, dass seine eigenen Körpergrenzen nicht gut wahrnehmen kann (hier können aber natürlich auch Punkte wie Balancefähigkeit und Orientierungsfähigkeit mit reinspielen.)
Das taktile System in der Praxis
Registrieren beispielsweise die Thermosensoren der Haut dass ein kalter Wind weht, gibt das ZNS den Haarbalgmuskeln den Befehl, die Haare zu einer wärmenden Schicht aufzustellen, und sorgt dafür, dass sich die Arterien mit Muskelhilfe verengen, um den Wärmeverlust durch eine Beschränkung des Blutflusses zu reduzieren. (Hier bei Sportsfreund Studios gibt es übrigens einen Text zum Thema Hitzeregulierung und Schwitzen, den ich dir sehr empfehlen kann.)
Mögliche Probleme mit der taktilen Wahrnehmung
Über- und Unterempfindlichkeit
Wenn dein Pferd Probleme mit der Wahrnehmungsverarbeitung im taktilen System hat, kann es sein, dass es Reize entweder gesteigert oder vermindert wahrnimmt. Dein Pferd kann beispielsweise nicht genau ausmachen, wo es berührt wird oder es reagiert auf Berührungen sehr stark.
Im Pferdealltag zeigen sich mögliche Defizite, indem dein Pferd sich nicht gern einsprühen lässt, weil es vielleicht den diffusen Reiz als unangenehm empfindet. Hier kannst du nachlesen, wie Pferdeergotherapie bei Einsprühproblemen helfen kann.
Möglicherweise hat es aber auch Probleme mit Vibration – zum Beispiel bei der Schermaschine oder dem Schmied. Oder es mag sich an einigen Körperstellen nicht gerne anfassen oder putzen lassen und ist berührungsempfindlich und zeigt dies, indem es sich verspannt, der Berührung ausweicht und im schlimmsten Fall sogar beißt oder tritt.
Andere Pferde wiederum haben Probleme mit dem Anlegen des Sattelgurtes (Gurtzwang), reagieren sehr stark auf Fliegen im Sommer oder vermeiden es nach Möglichkeit, im Regen draußen zu sein.
Tipp: Über das Thema Über- und Unterempfindlichkeit sprechen wir auch im Onlinekurs Sensomotorisches Pferdetraining!
Onlinekurs Sensomotorisches Pferdetraining
Sensomotorisches Training bedeutet, dass du auch die Sinnessysteme und das Gehirn in dein Training einbeziehst, um das Zusammenspiel von Gehirn, Nervensystem und Muskeln zu verbessern. Dies sorgt am Ende für eine bessere Koordination zwischen unterschiedlichen Muskeln bzw. innerhalb eines einzelnen Muskels, für ein besseres Körpergefühl des Pferdes, für mehr Stabilität und für verbesserte Bewegungsabläufe.
Das taktile System schulen
Das taktile System lässt sich schulen, indem die Sensoren regelmäßig mit unterschiedlichen Reizen stimuliert werden – und davon profitiert jedes Pferd. Denn je besser die Wahrnehmungsverarbeitung funktioniert, desto besser sind die eigene Körperwahrnehmung und die Handlungsfähigkeit im Pferdealltag.
Hier siehst du mich bei einem meiner Workshops zum Thema Körperwahrnehmung. Ich kombiniere in dieser Situation verschiedene Reize: der instabile Untergrund spricht das propriozeptive und vestibuläre System an und mit den Bürsten setze ich zusätzlich taktile Reize an der Hinterhand und sorge dafür, dass das Pferd seinen Fokus genau dorthin richtet.
Der Offenstall bietet viele taktile Reize
Ein Offenstall, der dem Pferd verschiedene Untergründe (Erde, Sand, Paddockplatten*, Betonplatten oder Schotter), unterschiedlichen Schubberstellen (Baumstämme, Bürsten, Gumminoppen) oder beispielsweise Lamellen vor dem Stalleingang bietet, hält bereits jede Menge unterschiedliche taktile Reize parat.
Sensoren stimulieren
Darüber hinaus kann jeder Pferdebesitzer den Tastsinn seines Pferdes schulen, indem er regelmäßig die Sensoren mit unterschiedlichen Reizen stimuliert.
Mögliche Reize sind:
- den Pferdekörper mit der Hand berühren, ihn mit der flachen Hand abstreichen oder die Finger wie Regentropfen auf die Haut trommeln lassen
- das Pferd mit unterschiedlichen Bürsten und mal mehr und mal weniger Druck putzen
- das Pferd mit einer Gerte abstreichen
- das Pferd einsprühen
- das Pferd mit einem Igelball oder einer Faszienrolle abrollen
- das Pferd mit nassen, unterschiedlich temperierten Schwämmen abtupfen
- das Pferd über verschiedene Untergründe wie Rasen, Asphalt oder Schotter laufen lassen
- mit Körperbändern trainieren
Bei jeder Übung musst du dein Pferd ganz genau beobachten und auf Zeichen der Überforderung oder Überstimulation achten
Wie sieht die Mimik des Pferdes aus, legt es vielleicht die Ohren an und zeigt, dass ihm etwas unangenehm ist? Weicht es indem aus? Was macht der Muskeltonus? (Hier kannst du mehr darüber erfahren, was dir der Gesichtsausdruck deines Pferdes verrät.)
Um das Pferd langsam an neue Reize zu gewöhnen, sollte idealerweise an einer Stelle begonnen werden, an der das Pferd Berührungen gewohnt ist – beispielsweise an der Schulter. Von da aus kann man sich langsam immer weiter forttasten und den Rücken und den Bauch, die Beine und die Hinterhand mit einbeziehen und den Druck, die Geschwindigkeit und sowie Bewegungsrichtung variieren.
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Ganz wichtig dabei: Es geht nicht darum, ob ein Pferd etwas gut macht oder nicht, es geht einzig darum, die Übungen auszuführen und verschiedene Reize zu setzen, die vom Pferd verarbeitet werden müssen.
Bei konkreten Problemen hilft dir ein Pferdeergotherapeut
Bei konkreten Problemen wie Gurtzwang, Berührungsempfindlichkeit, Einsprühproblematik und ähnlichem unterstütze ich dich als zertifizierte PFERGO Pferdeergotherapeutin gern dabei, wie taktile Wahrnehmung deines Pferdes zu verbessern und deinem Pferd seinen Alltag zu erleichtern. Hier findest du weitere Informationen zu meinem Angebot.
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