Über akuten und chronischen Stress beim Pferd denkt man meist erst nach, wenn ein Pferd „nicht funktioniert“ und man nach Ursachen und Lösungen sucht. Stress beeinflusst das Lernverhalten des Pferdes enorm und daher ist es so wichtig, den Stress des Pferdes im Training und im Alltag allgemein zu reduzieren und idealerweise zu verhindern.
Das Thema Stress im Training begleitet mich schon seit vielen Jahren. Als mein Sleipi als rohes Jungpferd zu mir kam, reagierte er auf viele Dinge gestresst und zeigte das deutlich. Da er bis zu seinem Einzug bei mir verhältnismäßig wild inmitten einer riesigen Jungpferdeherde in Dänemark lebte, hatte er (zum Glück) noch keine negativen Erfahrungen, die ihn geprägt hatten. Er war einfach sensibler und hat mit seinem Verhalten meine Herangehensweise an das Training und meine Arbeit mit den Pferden geprägt. Er forderte beispielsweise 150 Prozent Aufmerksamkeit und zwang mich, Dinge so kleinschrittig aufzubauen, dass er vieles richtig machen und ich ihn loben konnte. Auf diese Weise haben wir vieles entspannt erreichen und unser Vertrauen aufbauen können.
Langanhaltender Stress und negative Erfahrungen beeinflussen das Lernverhalten
Doch was Stress beim Pferd wirklich bedeutet und welche Konsequenzen langanhaltender Stress und negative Erfahrungen auch auf das Lernverhalten des Pferdes haben können, hab ich erst mit dem Einzug von Merlin Ende Juli 2021 deutlich erlebt.
Merlins Vorgeschichte ist sehr lückenhaft und ich weiß zwar, wie er die sieben Jahre vor dem Einzug bei mir verbracht hat, was davor passierte, weiß aber niemand. In den vergangenen Jahren musste er erst wieder lernen, dass der Mensch nicht per se böse ist.
Merlin hat vor vielen Dingen Angst bzw. reagiert gestresst. Er ist sehr introvertiert, hab aber im Laufe seines Lebens Lösungen entwickelt, Situationen, die ihm nicht geheuer sind und/oder ihn stressen, zu entkommen.
Was mir in Bezug auf das Training mit Merlin sehr schnell auffiel: Er lernt sehr langsam und scheint viele Dinge regelmäßig zu vergessen. Von seiner Vorbesitzerin weiß ich, dass er eigentlich gern und gut springt. Aber bei jeder Trainingseinheit muss ich ihm zum Beispiel aufs Neue zeigen, dass Stangen nichts Schlimmes sind. Vom Training mit instabilen Untergründen, das ihm sehr gut tun würde, sind wir meilenweit entfernt.
Seine Vorbesitzerin ließ bei einem unserer Gespräche über Merlin das Wort Lernbehinderung fallen, das mich seitdem nicht mehr losließ. Ich habe viel darüber nachgedacht und recherchiert. Weil ich aber nichts dazu finden konnte, habe ich mich an jemanden gewandt, der sich mit dem Thema Pferdeverhalten bestens auskennt: die Verhaltensbiologin Marlitt Wendt. Ihre (sehr empfehlenswerten) Bücher „Vertrauen statt Dominanz“ und „Im Dialog mit dem Pferd“ haben mich vor Jahren in meinem Denken und Handeln in Bezug auf die Pferde bestärkt und beeinflusst. Marlitt gehört auch zu den „Clickertanten“ und ich habe sie nicht nur danach gefragt, ob es so etwas wie eine Lernbehinderung bei Pferden überhaupt gibt, sondern mit ihr auch über das Lernen an sich, die unterschiedlichen Lerntypen, Stress bei Pferden und natürlich auch über ihren spannenden Weg zum Training mit positiver Verstärkung gesprochen. Viel Spaß mit unserem Interview!
Karolina von 360° Pferd: Liebe Marlitt, du beschäftigst dich bereits seit vielen Jahren mit dem Verhalten von Pferden und dem Training mit positiver Verstärkung. Wie kam es dazu?
Marlitt Wendt: Das ist eine lange Geschichte. 😉 Im Laufe der vielen Jahre gibt es so diverse Stationen und Schlüsselmomente, die zu dem geführt haben, was ich heute bin und womit ich mich beschäftige. Begonnen hat alles ganz weit zurück in meiner frühen Kindheit. Was mich von klein auf an schon am meisten fasziniert hat, waren Pferde. Sie einfach zu sehen, egal ob auf der Weide, auf Postkarten und Postern oder halt in Büchern, das hat mir ein Lächeln ins Gesicht gezaubert. Mich hat schon früh interessiert, was Pferde so alles tun, wenn sie unter sich sind. Meine Kinderzeichnungen erzählen davon, denn ich habe viel gemalt, wie Ponys grasen, sehr detailliert wie die Beinstellung in den verschiedenen Gangarten ist oder welchen Gesichtsausdruck sie wann haben.
Eine meiner generell frühesten Erinnerungen überhaupt hat mit Pferden zu tun. Vom Unterschied im Pferdeduft von Pony Sternschnuppe und Pony Maja. Für die Erwachsenen rochen sie halt beide einfach nach Pferd, für mich war jedes einzigartig. Und ich glaube diese ganz frühen Erlebnisse und Empfindungen, die sind etwas, was mich geprägt hat. Seit dem Vorschulalter habe ich direkt mit Pferden zu tun, mit 5 Jahren durfte ich mit dem Reiten beginnen.
Für mich war aber gar nicht das Reiten das Wichtigste, sondern das Zusammensein mit dem Pferd.
Marlitt Wendt
Faszination positive Verstärkung: glückliche Ponys, die von innen heraus strahlen
Meine Kindheit und Jugend habe ich bei unterschiedlichen Ponyzüchtern verbracht und dort sehr viel über das Verhalten von Pferden gelernt. Gelernt zu beobachten, nicht zu werten, sondern abzuwarten, was passiert. Und ich hatte das Glück einen damals bereits älteren Herren kennenzulernen, der seinen Shettys viele Tricks beigebracht hat. Das war damals mein erster Kontakt zum Thema Lernverhalten und positive Verstärkung, denn es wurde dort mit Futter gearbeitet, lange bevor irgendjemand in meinem Umfeld den Begriff Clickertraining kannte. Das hat mich so sehr fasziniert, weil die Ponys glücklich waren. Weil sie von innen heraus gestrahlt haben, gespielt haben und ich das Gefühl der tiefen Verbindung hatte. Ich denke es waren diese Momente mit den Shettys, die so ein großer Kontrast zum Alltag in der Reitschule waren, die mich letztendlich dorthin geführt haben, wo ich immer sein wollte.
Mein New Forest Pony Maraschino habe ich kurz nach meinem 18. Geburtstag gekauft. Zusammen mit ihm habe ich mich auf die Reise in die Welt der Pferdeausbildung gemacht. Noch mehr in die klassische Reiterei vertieft, aber auch Ende der 90er Jahre das Clickertraining für uns entdeckt. Und das wiederum hat mich so begeistert, weil es die praktische Antwort darauf geliefert hat, was ich in der Theorie in meinem Biologie-Studium mit Schwerpunkt Verhaltensbiologie gelernt habe. So sind die wissenschaftlichen Hintergründe und die Praxis der Pferdeausbildung immer mehr zusammengeflossen und ich habe neben meinem Studium bereits begonnen, mit den Pferden meiner FreundInnen und ersten Kundenpferden zu experimentieren. Es war eine spannende Zeit und dadurch reifte der Entschluss, mich direkt nach dem Studium 2003 selbstständig zu machen, um die Themen Pferdeverhalten und Training mit positiver Verstärkung mehr in die Pferdewelt hinauszutragen.
Was hat sich seit deinen Anfängen als Clickertrainerin vor rund 20 Jahren aus heutiger Sicht verändert?
Es hat sich sehr vieles verändert. Und ich freue mich sehr diesen Prozess schon seit so vielen Jahren verfolgen zu dürfen.
Aus meiner Sicht ist es heute schon etwas selbstverständlicher die Arbeit mit Futter als einen möglichen Weg der Pferdeausbildung zu sehen. Vor gut 20 Jahren war das doch eine sehr exotische Ansicht und wurde oftmals belächelt oder wenn überhaupt nur im Bereich der Zirkuslektionen für einen machbaren Weg gehalten. Aber es bleibt noch viel zu tun. Die Veränderung der gesamten Pferdeszene liegt noch in weiter Ferne, daher kommt es auf jede/jeden von uns an eine Inspiration für andere zu sein, die Welt der positiven Verstärkung mit Leben zu füllen.
Jedes Pferd lernt anders: unterschiedliche Lerntypen beim Pferd
Die Arbeit mit positiver Verstärkung erhöht die Motivation des Pferdes enorm – vor allem wenn es darum geht neue Dinge zu lernen. Dennoch lernt nicht jedes Pferd gleich schnell. Gibt es unter Pferden genauso unterschiedliche Lerntypen wie unter uns Menschen (auditiver Typ, optisch-visueller Typ, haptisch-kinästhetischer Typ oder kognitiv-intellektueller Typ – nach Definition von Frederic Vester) und was beeinflusst das Lerntempo?
Das Lerntempo ist für mich persönlich vor allem eine Frage der bisherigen Lebenserfahrung des Pferdes. Pferde, die bereits sehr früh positive Lernerfahrungen machen konnten, schrittweise an die unterschiedlichsten Situationen herangeführt wurden und die Lernmechanismen kennengelernt haben, lernen oft am leichtesten. Gerade auch wenn sie den Menschen früh als Partner kennengelernt haben und sanft begleitet wurden. Letztlich liegt ein scheinbar gutes oder ein weniger gutes Lernvermögen immer auch an dem menschlichen Trainer. Je nachdem wie gut er oder sie in der Lage ist, das Pferd zu lesen, die Talente zu fördern und die Lernschritte klug zu wählen, desto leichter wird das Pferd die unterschiedlichsten Aufgabenstellungen lernen.
Ich persönlich versuche immer die unterschiedlichen Lernkanäle zu bedienen, da oft die Kombination erst einen schnellen Lernerfolg bringt. Als Beispiel wird man beim Target-Training dem visuellen Lernen gerecht, mit dem akustischen Markersignal hat man gleichzeitig ein auditives Element. Manche Pferde reagieren stärker auf den einen oder den anderen Lernweg, aber aus meiner Sicht ist es wichtig, ein Gesamterlebnis zu schaffen. Vielleicht auch weil ich selbst ein sehr intuitiver Mensch bin, kann es aus meiner Sicht hilfreich sein, im Lernprozess das Pferd mal zu berühren, mal über den Rhythmus meiner Bewegungen anzuregen. Da Lernen vor allem auch auf der unbewussten Ebene stattfindet und immer dann besonders stark ist, wenn möglichst positive Gefühle damit verbunden werden, ist es mir wichtig, so viele unterschiedliche Nuancen von positiven Empfindungen gemeinsam mit dem Pferd zu entdecken wie irgend möglich. Ich begebe mich also gewissermaßen auf eine Gefühlsreise. Ich möchte nicht nur die gespannte, aufmerksame Trainingsstimmung, nicht nur die Euphorie oder die Spielfreude, sondern ebenso zarte, innige Momente, in denen vor allem ein Augenaufschlag oder ein Blickkontakt das gemeinsame Tun steuert, erleben.
„Lernschwächere“ Pferde sind häufig aus verschiedenen Gründen gestresst
Gibt es unter Pferden auch etwas wie eine Lernbehinderung, wie wir sie von uns Menschen kennen?
Pferde sind als Säugetiere ebenfalls mit einem Säugetiergehirn ausgestattet wie wir Menschen. Sicher kann es da zu allen auch beim Menschen bekannten Phänomenen rund ums Lernen, Erinnern und Vergessen kommen.
Für mich ist bei Pferden, die scheinbar vergesslich sind oder nicht so zu lernen scheinen wie das Durchschnittspferd, besonders wichtig, es wie eben bereits erwähnt über positive Emotionen zu lenken. Oft sind „lernschwächere“ Pferde vor allem aus irgendwelchen Gründen gestresst und daher nicht in der Lage sich zu entspannen, Freude zu empfinden und leicht zu lernen. Daher ist es für mich wichtig zunächst herauszufinden, ob das Pferd eventuell schon mit der Gegenwart des Menschen Probleme hat, ob die Futterbelohnung eben nicht rein positiv besetzt ist, sondern ambivalente Gefühle hervorruft oder irgendetwas anderes im Lernumfeld das Pferd daran hindert sein Potential zu entfalten. Viele dieser Pferde brauchen sehr viel Sicherheit. Zum Teil einfach dadurch, dass sie nie allein trainiert werden, sondern immer gemeinsam mit anderen Herdenmitgliedern, damit sie sich an ihnen orientiere können und sie die Sicherheit der Gruppe spüren. Außerdem brauchen sie oft viele Wiederholungen und einfachste Übungen, die immer zum Erfolg führen, damit sie sich nicht in ihr Schneckenhaus zurückziehen.
In der Praxis kann das bedeuten, dass ich zwischen zwei Wiederholungen der eigentlich zu lernender Lektion doppelt so viele Mini-Aufgaben stelle, die das Pferd mit Sicherheit richtig beantworten kann. Das kann zum Beispiel simple Target-Berührung sein, Kopfsenken oder ich führe Erfolgserlebnisse herbei, indem ich das Pferd für eine von mir initiierte Berührung clicke und belohne.
Verlangsamtes Lernen kann auch etwas mit unentdeckten Schmerzen zu tun haben. Chronische Schmerzprozesse führen zu einem dauerhaften Unwohlsein, welches wiederum gerade bei eher introvertierten, passiven agierenden Pferden dazu führt, dass sie von sich aus sehr wenig anbieten, möglichst Energie sparen und eben wenig zielgerichtetes Verhalten zeigen. Umso wichtiger ist es daher eine gute Schmerzdiagnostik zu machen, bevor in einem unbefriedigenden Trainingsprozess verharrt wird.
Lesetipp: Aus den Gesichtern der Pferde lesen
Chronischer Stress beim Pferd: Lebenssituation analysieren und optimieren
Was kann ich tun, wenn ich ein Pferd mit chronischem Stress habe, wie kann ich ihm das Lernen erleichtern?
Chronischer Stress ist ein super vielschichtiges Problemfeld. Oft hilft es erst wenn man eine Gesamtanalyse der Lebenssituation des Pferdes macht. Also nicht nur die eigentliche Arbeit anschaut, sondern das Haltungskonzept, die Fütterung, die Gruppenzusammensetzung, das Trainingsumfeld usw. Erst dann mache ich mir trainingsbezogene Gedanken zur Stressreduktion. Da ist ein ganz wichtiger Faktor für mich das gezielte Einbringen von unterschiedlichen Pausensettings, um das Training gliedern zu können. Daneben arbeite ich gerne mit Entspannungstechniken, mit Massagetechniken, Berührungen und dem Spiegeln von meinen eigenen Verhaltensweisen, um das aktive Lernen bestmöglich zu begleiten.
Dann versuche ich natürlich mein Training zu strukturieren und zu planen. Dabei hilft es mir immer genaue Trainingsziele festzulegen, um Zwischenschritte und Trainingskriterien benennen zu können. Das genaue Timing, die Belohnungsrate und überhaupt die Auswahl der Belohnungen hat ebenfalls großen Einfluss darauf, ob Stress langfristig reduziert werden kann oder eher bestehen bleibt. Es hat sich für mich bewährt, das Pferd genau zu beobachten und eventuell über Videos oder Fotos sein Ausdrucksverhalten im Training festzuhalten. Daran kann man oft sehr gut einschätzen, ob stressbedingte Verhaltensweisen seltener werden, die Mimik entspannter wird und echte Entspannung eintritt.
Kann ich einem Pferd auch den chronischen Stress nehmen? Eine chronische Erkrankung beispielsweise ist nur schwer oder auch gar nicht zu heilen – gilt das auch für chronischen Stress?
Chronischer Stress kann leider sehr dramatische Folgen haben und auch zu Folgeerkrankungen wie Depressionen, echten Verhaltensstörungen, Immunschwäche oder Verdauungsstörungen führen. Je länger ein Stress-Problem bereits besteht, desto schwieriger wird es wirklich 100%ige Lösungen zu finden. Verbesserungen sind oft schon mit kleinen Veränderungen und Optimierungen zu erzielen, aber komplett heilen wird man manche dieser Erkrankungen nicht können. Für mich ist es daher entscheidend, im Sinne des Pferdes gemeinsam im Team mit TierärztInnen und anderen ExpertInnen der unterschiedlichsten Fachgebiete ganzheitlich nach Lösungsansätzen zu suchen.
Vielen Dank Marlitt, dass du dir die Zeit genommen hast, meine Fragen zu beantworten! Du hast viele interessante Aspekte angesprochen, die mich zum Nachdenken angeregt haben und ich denke, dass es auch vielen Lesern so gehen wird!
Wenn du mehr über Marlitt Wendt und ihre Arbeit erfahren möchtest, dann schau unbedingt auf ihrer wirklich tollen und informativen Webseite 👉 rplus.click vorbei. Dort findest du wirklich wahnsinnig viel Wissen und Inspiration zum Thema Pferdeverhalten und natürlich auch zum Training mit positiver Verstärkung.
Und wenn dich das Thema Stress beim Pferd mehr interessiert, empfehle ich dir mein Interview mit Christine Dosdall und Kathrin Guter-Wycisk zum Thema Angst und Stress beim Pferd.
Außerdem möchte ich dir unbedingt die tollen Bücher von Marlitt empfehlen:
- Wendt, Marlitt (Author)
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